Jahreslosung: „ Suche Frieden und jage ihm nach“ (Psalm 34, 15)

Pfr. Thomas Baumgärtner

Liebe ökumenisch versammelte Gemeinde zu Neujahr, 

die Jahreslosung aus Psalm 34, 15 fordert uns auf, den Frieden zu suchen und ihm nachzujagen. Die Grundbedeutung von Suchen im Hebräischen ist dabei das Suchen eines Verlorenen oder Vermissten. Interessanterweise wird nie ein Ort gesucht. Eher sind es Menschen oder lebensrelevante Dinge. Daher hat das Verb „Suchen“ etwas sehr Dringliches. 

Auch das zweite Verb „Jagen“ ist eines, welches eine hohe Aktivität und Ausdauer zum Ausdruck bringt. In unserer Jahreslosung ist es gerade der Friede, dem dauerhaft und mit aller Konzentration nachgejagt werden soll. Friede ist kein Selbstläufer!

Und schließlich seien ein paar grundlegende Gedanken zum biblischen Friedensbegriff vorangestellt. Frieden, hebräisch Schalom, ist mehr als die Abwesenheit von Krieg und Gewalt. Schalom, Friede ist in der Sprachwelt des Alten Testaments ein Hoffnungsbegriff, auf den alles Leben sich bezieht. Wer im Schalom lebt, lebt in einer geheilten Beziehung zu Gott, zu seiner Mitwelt, zu sich selbst. Dieses Ziel, Schalom, Friede, Heil-sein, lohnt deshalb täglich jeden Einsatz. 

Doch während ich über diese Worte der Jahreslosung nachdenke, spüre ich den Zwiespalt. Mehr denn je ist die Welt vom Unfrieden gezeichnet. In seiner Ansprache zum Neuen Jahr sagt der Uno-Generalsekretär António Guterres: «Es sind nervöse Zeiten für viele, und unsere Welt geht durch einen Stresstest». 

Klimawandel, Konflikte, Rekordmigration, Ungleichheit, Intoleranz und abnehmendes Vertrauen seien unter den großen Problemen und Herausforderungen. Anlass zur Hoffnung böten unter anderem die Friedensgespräche für das Bürgerkriegsland Jemen und die Fortschritte zwischen den zuvor verfeindeten LändernÄthiopien und Eritrea, neue Anzeichen für einen möglichen Frieden im Südsudan, die Verabschiedung von Migrations- und Flüchtlingspakt sowie der Klimagipfel in Polen. Angesichts dieses Stresstestes für die Welt kann die Botschaft für 2019 eben nicht die sein: 

Zieht euch zurück in eure privaten Nischen. 

Ganz im Gegenteil: Mit Nachdruck werden wir aufgefordert, diesen so zerbrechlichen Frieden zu suchen und diesem nachzujagen. 

Im Sinne Jesu sind wir dazu berufen, Friedensstifterinnen und Friedensstifter zu sein. Der bekannte Religionswissenschaftler Schalom Ben Chorin, der 1999 verstarb, formulierte diese Suche nach Frieden wie folgt: 

Wer Frieden sucht, 
wird den anderen suchen, 
wird Zuhören lernen, 
wird das Vergeben üben, 
wird das Verdammen aufgeben, 
wird vorgefasste Meinungen zurücklassen, 
wird das Wagnis eingehen, 
wird an die Änderung des Menschen glauben, 
wird Hoffnung wecken, 
wird dem anderen entgegenkommen, 
wird zu seiner eigenen Schuld stehen, 
wird geduldig dranbleiben, 
wird selber vom Frieden Gottes leben. 

Deshalb: Suchet den Frieden?

Andreas Buranis Lied vom Frieden bringt einen weiteren wichtigen Aspekt von Frieden auf den Punkt:

„Ich suche den Frieden
wo ist der Frieden in mir
ich hab' ihn verlorn'
war schon lang' nicht mehr hier
Für den Frieden
Für die Liebe
ich geh' erst, wenn ich sie spür'…“

Der Frieden mit sich selbst, weil dieser die Grundlage für jeden Frieden ist. Weil ich mich im Frieden mit mir selbst, leidenschaftlicher einsetze für den weltweiten Frieden, für Frieden in der Gesellschaft, in der Schöpfung. Denn im Frieden mit mir kreise ich nicht ständig um mich selbst, bin nicht ich im Mittelpunkt, sondern offen und sensibel für Gott und den Nächsten. 

Noch einen Aspekt möchte ich zur Jahreslosung nennen: 

Interessanterweise trug der letztjährige Katholikentag in Münster genau dieses Motto der Jahreslosung: Suche Frieden. 400 Jahre nach Beginn des Dreißigjährigen Krieges, 100 Jahre nach Beendigung des 1. Weltkrieges, dazu noch in der Stadt, in der vor 370 Jahren mit dem sog. Westfälischen Frieden der Dreißigjähre Krieg beendet wurde. 

Ich frage mich, wie wohl die Menschen am Neujahrsmorgen vor 100 Jahren also 1919 diese Worte gehört und empfunden hätten. 

Sechs Wochen nach Beendigung des 1. Weltkrieges zwischen den Kriegsteilnehmern, aber auch Frieden innerhalb der damaligen Gesellschaft, die am Rande des Bürgerkrieges stand. Damals wie heute ist das Thema Frieden eine Daueraufgabe. Der Frieden zwischen Nationen und Religionen, innerhalb unterschiedlicher Gruppen in der Gesellschaft, der Frieden zwischen den Generationen und Konfessionen und Geschlechtern. Der Frieden zwischen Arm und Reich, der Frieden mit der Schöpfung, der Frieden mit Gott und mit einem selbst. Die ganze Bandbreite von Frieden, von Schalom, bedarf also unseres ganzen Engagements und unserer vollen Aufmerksamkeit. 

Die Gefahr bei dieser Jahreslosung sehe ich darin, dass wir uns alle sofort einig sind: Ja, wir müssen den Frieden jeden Tag suchen und diesem nachjagen. Wer würde schon behaupten können, dass der Frieden schon da wäre. Aber gerade weil wir uns so einig sind, besteht die Gefahr, dass wir nachlassen in der Jagd nach dem Frieden.

Und vielleicht schleicht sich immer wieder auch eine Portion Resignation angesichts des komplexen Unfriedens in der Welt ein. Was können wir als Einzelne schon ausrichten im Konzert der Mächtigen dieser Welt?

Deshalb soll die Jahreslosung auch nicht als guter Vorsatz für das Neue Jahr verstanden werden. Es braucht jedoch einen starken Glauben, um diesem von Gott verheißenen Frieden näherzukommen. 

Wie das konkret aussehen könnte, möchte ich an der Friedensethik Jesu in der Bergpredigtkurz skizzieren. 

Jesu sagt: Glücklich sind die, die Frieden stiften. Aber worin besteht für Jesus dieser Frieden? Die Friedensethik geht an die Wurzel des Problems. Sie weist auf die Wunde des Unfriedens, die in jedem Menschen selbst liegt. Hier muss der Frieden ansetzen. Zu dieser Einsicht kam auch die UNESCO, die angesichts des Grauens des Zweiten Weltkrieges gegründet wurde. 

So heißt es in der Präambel vom 16. November 1945: „Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden.“

Im Zentrum der Friedensethik Jesu steht das Gebot der Feindesliebe.Liebet Eure Feinde.Tut wohl denen, die euch hassen. Segnet, die euch verfluchen. Betet für die, die euch misshandeln. Wer dich auf die eine Wange schlägt, dem halte auch die andere hin; und wie ihr wollt, dass die Leute mit euch umgehen, so geht auch mit ihnen um. Ich gebe zu, dass Feindesliebe wohl das Schwierigste überhaupt ist, weil sie dem, was uns prägt, total widerspricht. Der Verzicht auf Vergeltung, der Verzicht auf das Rechthaben, die Stärke, auch mal einen Schritt zurückzutreten oder den ersten Schritt auf einen anderen zuzugehen, das liegt nicht in unseren Genen. Allein der menschliche Trieb zur Selbsterhaltung steht dieser Friedensethik Jesu entgegen. 

Viele sprechen von einer Entfeindungsstrategie Jesu in der Bergpredigt, weil er mit einem Überraschungsmoment arbeitet. 

Nicht Auge um Auge, Zahn um Zahn, sondern: Liebet eure Feinde. 

Und diese Liebe bezieht sich nicht nur auf den Nächsten, sondern auch auf den Fernsten, den Feind. Gerade dadurch bringt die Feindesliebe das innerste Wesen der Liebe Gottes so radikal zum Ausdruck, denn -so wie Gott ohne Unterschied die Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute und es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte - so soll auch die Liebe der Menschen sein, die Jesus nachfolgen. Sie gilt allen ohne Unterschied. Es ist jedoch die Selbstbezogenheit, die uns solche Liebe und damit solchen Frieden unmöglich macht. Jesus nennt die Wurzel alles Unfriedens: Habgier, Besitzstreben, Geltungssucht, Konkurrenzdenken, Eifersucht, Rache, Vergeltung, Neid und Unzufriedenheit. Deshalb ist und bleibt die Ethik Jesu eine Ethik der Hoffnung,die wir täglich suchen und einüben sollen. 

Dieser Friede Jesu kann gesellschaftlich und als Maxime politischen Handelns nicht eingefordert werden. 

Aber er kann, wenn auch nur punktuell, verwirklicht und erfahren werden. 

Wo immer wir im Geiste des Friedens der Bergpredigt unser Leben gestalten, wo immer wir als ökumenische Gemeinde Jesu Christi unterwegs sind, ist es ein Zeichen der kommenden Herrlichkeit des Friedens Gottes. Dieser Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, ist und bleibt auch im Neuen Jahr der Bezugspunkt für alle unsere Bemühungen um einen gerechten Frieden in der Welt. 

Und so bleibt es der Aufgabenhorizont im vor uns liegenden Jahr: Suche Frieden und jage ihm nach. Amen.